Text: Daniel Zant
Es gibt viele Spielecharaktere, die sich im Laufe ihrer Entwicklung einigen Revisionen unterziehen lassen mussten. Aber es gibt hierbei keinen Charakter, der diesbezüglich Conker, dem Eichhörnchen (genauer genommen handelt es sich hierbei um ein Eichhörnchen der Gattung Sciurus vulgaris), das Wasser reichen kann. Der Autor dieser Zeilen überlegte sich viele passende Überschriften à la „Wie ein Eichhörnchen das Saufen lernte“ oder „Die Geschichte eines Eichhörnchens, das erwachsen wurde“, aber das wird dem tatsächlichen Charakter dieses pelzigen Nagers einfach nicht gerecht. Dieses Eichhörnchen musste mehrfach eine Frischzellenkur über sich ergehen lassen, die es vom Allerwelts-Plattformer-Charakter auf die Stufe eines individuellen Stars mit Wiedererkennungswert gehievt hat.
Was war geschehen? Es war Juni 1997 und die Electronic Entertainment Expo fand zum dritten Mal statt. Viele Highlights gab es zu bestaunen, unter anderem Metal Gear Solid, Half-Life und Final Fantasy VII. Auch Nintendo war mit seinem nun weltweit verfügbaren Nintendo 64 (Release in Europa: März 1997) sehr gut aufgestellt, und es musste nun, nach anfänglicher Euphorie, die nächste Generation an Spielen für das neue Flaggschiff überzeugen. Natürlich war hierbei auch Rare an Bord, damals noch Haus-und-Hof-Entwickler von Big N, welche bereits während der SNES-Ära mit Titeln wie Battletoads oder der Donkey-Kong-Country-Reihe Systemseller programmiert hatten und nun mit Nintendo ins 3D-Zeitalter vorstießen. Immerhin hatten sie bereits Blast Corps und Killer Instinct Gold für das Nintendo 64 releast, wobei vor allem Blast Corps die Fachpresse überzeugen konnte. Nun aber wollten sie Spiele in 3D für das Nintendo 64 perfektionieren. So präsentierten sie unter anderem 007 – Goldeneye und Banjo-Kazooie, welche zweifelsohne zu den besten Titeln des Nintendo 64 zählen. Und hier findet sich auch das erste „Problem“ für unser Eichhörnchen: Banjo-Kazooie. Ein 3D-Plattformer wie er damals üblich war, der sich viel von Super Mario 64 lieh und in vielen Punkten sogar weiter perfektionierte. Eine gesetzte Nummer also. Mit Charakteren, die Wiedererkennungswert haben, und das Nintendo 64 in seiner Position stärkten. Und dann war da auch noch Conker’s Quest, das Spiel, in welchem Eichhörnchen Conker der Star sein sollte. Ebenfalls ein Plattformer, vom selben Studio. Das gezeigte Material war als niedlich, wenn nicht sogar als zuckersüß zu bezeichnen. Man hatte die Wahl zwischen zwei Charakteren: Conker und seiner Freundin Berri. Man rannte und hüpfte wie, nun ja, es in einem 3D-Plattformer üblich war, schüttelte Kastanien aus den Bäumen und musste Hindernissen ausweichen. So weit, so gut, so Standardkost. Das bedeutet eigentlich nichts Schlechtes, allerdings stand Conker’s Quest klar im Schatten von Banjo-Kazooie. Wenn man auch noch auf die Release-Listen anderer Hersteller für das Nintendo 64 achtete, wurde es offensichtlich, dass weitere gute und weniger gute 3D-Plattformer für das System anstanden und Conker es mit seiner – doch kindlich wirkenden – Optik schwer haben könnte, sich von der Masse abzuheben. Vor allem, weil Tiercharaktere ein sehr beliebtes Motiv in den 90ern bei 2D-Jump-‘n‘-Run-Titeln waren und nicht jeder dieser Charaktere einen bleibenden Eindruck hinterlassen konnte, sprich, sich nicht aus der Masse abhob – und genau das galt es zu verhindern, wollte man am Markt bestehen. Die Presse schien trotzdem überwiegend positiv davon zu berichten, doch hatte man das Gefühl, dass das Game gegenüber Banjo-Kazooie hintenan stehen musste.
Und so verging die Zeit
Rare hielt allerdings an Conker in seiner ursprünglichen Form weiter fest. So wurde noch im selben Jahr Conker u. a. mit Banjo (aus Banjo-Kazooie) und weiteren Charakteren in Diddy Kong Racing im Fahrerfeld aufgeboten. Das Spiel war auch im bunten Nintendo-Look gehalten, sodass Conker, mit all seinen Facetten, perfekt in die dortige Welt passte. Der Fachpresse gefiel das Spielerlebnis und es verkaufte sich auch außerordentlich gut. In der Folge erschienen weitere Screenshots von Conker, die keinen Zweifel aufkommen ließen, dass Rare sich keinesfalls von ihrem eingeschlagenen Kurs abbringen lassen wollten. Außerdem wurde der Titel des Spiels von Conker’s Quest in Twelve Tales: Conker 64 umbenannt. Im Jahr 1999 kam auch noch Conker’s Pocket Tales für den Game Boy auf den Markt, welches noch immer an den ursprünglichen Charakter-Eigenschaften festhielt. Die Story war dementsprechend niedlich aufgebaut: Conkers Freundin Berri hat Geburtstag. Eine Rieseneichel zerstört die Feier, indem sie alle Geschenke vereinnahmt und, zu allem Unglück, Berri entführt. Das kann Conker natürlich nicht auf sich sitzen lassen und versucht Berri zu retten. In einem Jump-‘n‘-Run-Spiel, welches aus der Vogelperspektive gezeigt wird, geht es auch hier ganz schön bunt und niedlich zur Sache. Die Fachpresse urteilte überwiegend durchschnittlich über das Game.
Der Wandel
Und dann folgte im Jahr 2000 die große Überraschung: Conker präsentierte sich als saufendes und fluchendes Eichhörnchen, der Titel des Spiels wurde in Conker’s Bad Fur Day umbenannt. Was man eigentlich als Aprilscherz hätte aufnehmen können – immerhin befand sich das Game lange in der Entwicklung und etwas Selbstironie hätte die ganze Situation in der Öffentlichkeit durchaus aufgelockert – war Rare vollkommen ernst. Es wurden die meisten Elemente über Bord geworfen und das Spiel neu ausgerichtet, obwohl es noch immer Ähnlichkeiten zu früher hatte. Dazu meinten die Entwickler, dass die Hauptfigur und der größte Teil des Codes bereits geschrieben waren, sodass es als beste Option schien, das bestehende Spiel in diese andere Richtung zu ändern: Erwachsenen-Humor wurde als Schlüsselelement genannt und forciert. Konkret bedeutete das: Auf Screenshots konnte man im ersten Moment wenig Unterschiede zu früher erkennen, schließlich war es noch immer bunt. Aber die Ausrichtung war eine neue und hatte nicht das Ziel, Familien zu unterhalten, was wohl die krasseste Wandlung eines Spieles war, die man sich vorstellen konnte. Die Geschicklichkeitselemente eines 3D-Plattformers wurden zum großen Teil heruntergeschraubt, obwohl es im Kern trotzdem ein 3D-Plattformer blieb. Außerdem führte man eine kontextsensitive Steuerung ein: Je nachdem, wo Conker gerade steht, löst der Druck auf den B-Button immer eine andere, passende Aktion aus. Zum Beispiel, dass er sich volllaufen lässt oder eine Bratpfanne zückt, um dem Gegner eins „überzubraten“.
Rare sollte tatsächlich das Spiel in dieser Form finalisieren, wobei Nintendo nicht den Vertrieb übernehmen wollte. Den sicherte sich in Europa THQ, was sich auch in einem fast doppelt so hohen Preis im Handel ‒ im Vergleich zu den üblichen Nintendo-Modul-Preisen ‒ niederschlug. Im April 2001 war es dann soweit: Das Spiel stand im deutschsprachigen Raum in den Händlerregalen und war schnell wieder vergriffen.
Ein Eichhörnchen gegen den Rest der Welt
Das Spiel selbst erhielt durchweg positive Kritiken, auch wenn einige Mängel zu erkennen waren, wie zum Beispiel eine schwammige Steuerung, wenn man unter Zeitdruck aus der Ego-Ansicht Elemente treffen musste. Und auch sonst saß nicht jeder Sprung von Plattform zu Plattform so sicher wie z. B. in Banjo-Tooie, welches im gleichen Zeitraum releast wurde. Aber es wirkte durchdacht und die Charaktere waren sympathisch und witzig. Außerdem war man gespannt, was Rare sonst noch für Überraschungen bei der Story in petto hatte. Also insgesamt doch eine Abkehr vom üblichen 3D-Plattforming, obwohl dessen Elemente zum Teil schon noch vorhanden waren. Trial and Error gehörte auch irgendwie dazu, da es tatsächlich Stellen gab, an denen man nach gefühlten 100 Anläufen und etwas Glück dann doch – nahe am Verzweifeln – endlich weiter kam. In Worten ist das, was Rare hier vollbracht hat, schwer zu beschreiben – man muss es selbst erlebt haben, um objektiv ein Urteil darüber fällen zu können. Der Star des Spiels, neben dem Hauptcharakter, ist eindeutig die abgedrehte Welt, in welcher sich dieser befindet. Dies wird bereits nach dem Einlegen des Spielmoduls und Einschalten der Konsole deutlich. Das Erste, was man sieht, ist, wie Conker das N64-Logo mit einer Motorsäge zersägt und dazu ein „Stupid logo“ von sich gibt. Absolut herrlich! Wenn man dazu noch bedenkt, dass Nintendo viele Elemente in diesem Spiel zensierte und damit entfernt hat, dann überrascht doch deutlich, dass genau diese Sequenz nicht der Schere zum Opfer fiel. Aber genau dieses Intro sollte den Spielern zeigen, mit welcher Art von Spiel und Humor man es hier zu tun habe. Schon nach den ersten Sekunden sollte man gespannt sein auf weitere wahnwitzige Momente!
Zur Story: Nach einer durchzechten Nacht, in der scheinbar nichts ausgelassen wurde, wacht Conker orientierungslos auf und möchte einfach nur noch nach Hause. In den Weg stellen sich jedoch äußerst skurrile Charaktere (siehe hierzu die Infobox „Erinnerungswürdige Begegnungen“), viele Gegenstände haben ein Eigenleben (aufs Derbste fluchende Geldbündel, weglaufende Schlüssel, eine suizidgefährdete Mistgabel). Und dann gibt es da noch einen großen Widersacher in Form von Panther King, der sich gerne, im Kontrast zum biertrinkenden Conker, einen Schluck Milch gönnt. Dummerweise ist allerdings sein Holztisch kaputt: Es fehlt eines von vier Holzbeinen daran, sodass immer das Glas Milch des Königs vom Tisch rutscht und zerbricht. Natürlich bringt dieser Umstand einen milchtrinkenden und miesepetrigen König leicht zur Weißglut, weshalb sein Diener, Professor von Kripplespac, eine Lösung finden soll. Und nach eingehenden Recherchen ist klar, woran es hapert: Ein viertes Tischbein muss wieder her. Aber wo soll man so ein Tischbein einfach herholen? Die Lösung: Der Professor hat mit komplizierten Berechnungsformeln herausgefunden, dass ein Eichhörnchen als Tischbein genau das Richtige ist. Diese Beschreibung passt perfekt zu Conker! Also schickt Panther King seine Gefolgsleute los, um besagtes Eichhörnchen ausfindig zu machen. Also noch mehr Probleme, die sich Conker in den Weg stellen. Nebenbei ist Conkers Freundin Berri zwischenzeitlich auch in die Story verwickelt, und man wird sie im Laufe des Spiels antreffen, allerdings in einer (auch optisch) weitaus reiferen Form als 1997. Bis zum Happy End mit vielen Wendungen und einem groben Schnitzer seitens Conker vergeht sehr viel Zeit, in der man gut unterhalten wird. Hier merkt man das Herzblut, das Rare in dieses Projekt gesteckt hat, und dass die Entwickler sich nach Lust und Laune austoben durften – was so nicht oft vorkommt. Daher eine klare Kaufempfehlung seitens des Autors für dieses Spiel!
Und dann?
Rare wurde kurze Zeit später von Nintendo an Microsoft verkauft, was damals für einen großen Schock in der Nintendo-Fanwelt sorgte. 2005, einige Jahre nach dem Release von Conker’s Bad Fur Day, erschien ein Remake des Games unter dem Namen Conker: Live & Reloaded für die Xbox, welches grafisch aufgebohrt und auch mit deutschen Bildschirmtexten versehen wurde, die es in der Nintendo 64-Version nicht gab. Seither ist es leider still um das Eichhörnchen geworden. Wir wünschen uns daher, dass Conker uns hoffentlich bald mal wieder einen seiner verkaterten Tage näher bringen darf – verdient hat es sich dieser (Anti-)Held allemal!